Ins Herz der Künstlichkeit
Die Orang-Utans von Borneo zwischen Primatenforschung, Artenschutz und Tourismus
An der Mole von Kumai, hinter der Moschee, singen die Schwalben. Ihre Stimmen kommen aus Lautsprechern. Sie sollen Artgenossen verleiten, in bestimmten Gebäuden zu nisten, die entlang des Ufers errichtet wurden und in deren Beton reihenweise Löcher eingelassen sind. Die Nester, die dort zu Hunderten abgeerntet werden, gelten in China als Delikatesse, der man heilende Kräfte zuschreibt.
Das Hafenstädtchen im indonesischen Teil der Insel Borneo ist der Ausgangspunkt organisierter Touren, die in den Nationalpark „Tanjung Puting“ führen. Familien oder kleine Gruppen unternehmen mehrtägige Fahrten auf hölzernen Kähnen, betreut von Kapitän, Koch, Schiffsjunge und Führern, die von Krokodilen sprechen, von Speikobras und von wilden Bären. Der Mythos der Wildnis ist verführerisch. Die Werbung verspricht „Natur“, „Abenteuer“ und vor allem: Orang-Utans – die asiatischen Menschenaffen, deren Aussterben Fachleute für nicht mehr abwendbar halten.
Aber die Wildnis ist Wunschvorstellung, Vergangenheit und Inszenierung. Der Urwald wurde großflächig gerodet, um Platz für Plantagen zu schaffen, auf denen Palmöl produziert wird. Man verwendet es in der Herstellung von Treibstoff, Kosmetik und Lebensmitteln. Um Schädlinge zu bekämpfen, wurden auf den Pflanzungen Kobras ausgesetzt. Gerade schleppt ein Lastschiff einen haushohen Stapel von Tropenholz hinaus aufs Meer.
Die Einfahrt in den Sekonyer, wo der Nationalpark beginnt, wirkt dennoch malerisch. Seine Ufer säumen buschige Nipapalmen, die hier im Brackwasser gedeihen, wo sich der Fluß in die Javasee ergießt. Aber Düngemittel, die aus den Plantagen in seinen Lauf gelangen, verändern die Vegetation und lassen sie unverhältnismäßig wuchern. Von der Quelle her treibt giftiges Quecksilber hinab, das Goldsucher einsetzen, um das kostbare Metall im Boden sichtbar zu machen.
Nach einiger Zeit ersetzen hochragende Bäume die breitblättrigen Palmen. In ihren Wipfeln bewegen sich Makaken, großnasige oder langschwänzige, und vereinzelt ein behende von Ast zu Ast hüpfender Gibbon. Die eigentliche Attraktion der Safari jedoch ist nicht von Bord, sondern an Land anzuschauen. Die Ausflugskähne, die hintereinander stromaufwärts fahren, legen an Stegen an, um die Reisenden aussteigen zu lassen. Ein Weg führt zu einer Stelle, wo die Orang-Utans, damit sie sich den Besuchern zeigen, regelmäßig Futter erhalten. Sie folgen weittragenden Lockrufen der Park-Ranger, wie die Schwalben im Hafen. Und tatsächlich bewegen sich bald einige Zweige der Bäume, die im Halbkreis die Kulisse des Schauplatzes bilden. Eine Mutter, deren Junges sich an ihren Leib klammert, schwingt, hangelt und klettert von einer Baumkrone zur nächsten und läßt sich schließlich herab, um die Bananen aufzuheben, die auf einer Bretterbühne für sie bereit gelegt wurden. Vor einem Seil, das sie vom Zuschauerraum trennt, gibt es Bänke für das Publikum. Wenn sich ein Tier nicht wieder hinauf in die Wipfel bewegt, sondern auf den Pfad begibt, der seine Beobachter hergeführt hat, wird es umstellt. Dann richten sich Dutzende Kameras, Smartphones und iPads aus nächster Nähe auf den Primaten. Bei den meisten Exemplaren scheint es sich um ehemalige Käfigtiere zu handeln, die nach dem Verlust ihres Lebensraums zunächst gerettet und dann wieder ausgewildert wurden, nachdem man sie auf einer Auffangstation auf das Leben im Wald vorbereitet hatte. Weil sie so lange bei Menschen lebten, haben sie ihre natürliche Scheu verloren. Einige lassen sich auf eine Berührung mit den Touristen ein, andere wagen sich sogar vor auf den Steg, bis zu den Booten. Man hat es für nötig gehalten, auf Schildern vor Zudringlichkeit zu warnen: „Nicht füttern! Nicht anfassen!“
Andere Tiere entziehen sich nach der Mahlzeit und verschwinden im Wald. Von dort sind plötzlich Schreie zu vernehmen, die nichts Gutes verheißen: Sie könnten bedeuten, daß ein Weibchen zur Paarung gezwungen wird oder angesichts einer giftigen Schlange Todesangst hat. Hinter den Kulissen, wo die Wildnis tatsächlich noch Wildnis ist, hat sie wenig Romantisches.
Abends wird das Boot am Ufer festgemacht. Nach der tropisch kurzen Dämmerung ist ein Konzert der Rufe und Laute zu hören, die ihrerseits nicht leicht zu deuten sind. Es klingt wie das „Nächtliche Tierleben im Urwalde“ an den Ufern des Orinoco, das Alexander von Humboldt als Symphonie der Tierstimmen beschrieb. Ihre Bewandtnis, so erklärte er in seinen „Ansichten der Natur“, musste einem europäischen Forscher dunkel bleiben, der vor allem visuell wahrnimmt und die anderen Sinne vernachlässigt: Paarung oder Kampf, Spiel oder Angst – und womöglich die Anbetung des Mondes. Im ufernahen Gebüsch leuchten derweil Dutzende Glühwürmchen. „Wie Weihnachtsbäume“, finden die Reiseführer.
Am nächsten Tag fährt der Kahn in einen Nebenfluß ein, dessen torfschwarzes Wasser sich in das Braun des Sekonyer mischt. Kupferrot schimmern unter der Oberfläche die Wurzeln und Blätter überschwemmter Pflanzen. Die Expedition geht an Land und unternimmt eine Wanderung durch den versprochenen Urwald. Die Führer an Bord sind hier eigentlich selber fremd, sie stammen von der Nachbarinsel Java. Den Weg durch Borneos keineswegs mehr undurchdringliche Natur könnten zwar auch sie weisen, denn vom Primärwald scheinen nur einzelne Baumriesen verblieben zu sein. Aber die Führung übernehmen eingeborene Dayak, deren Vorfahren dieses Gebiet noch vor zwei Generationen bewohnt und hier Reis angebaut haben. Ihre in Lichtungen angelegten Gräber markieren farbig angestrichene kniehohe Holzpfähle.
Von einer letzten Anlegestelle führt der Weg zum „Camp Leakey“. Es ist benannt nach dem Mentor der drei prominentesten Affenforscherinnen: Dian Fossey, die sich in Zaire und Ruanda für die Erhaltung der Berggorillas einsetzte und dafür mit einer Machete ermordet wurde; Jane Goodall, deren Arbeit den Schimpansen gilt; und Biruté Galdikas, die in Indonesien für das Überleben der Orang-Utans kämpft. Die aus Litauen stammende, nach dem Krieg in Deutschland geborene Kanadierin hat hier, so erklärt eine Tafel, seit Anfang der 1970er Jahre 100.000 Beobachtungsstunden zugebracht. Zu besichtigen ist eine erhaltene Hütte auf Stelzen. In ihren zwei Räumen zeigt ein Museum die Porträts einzelner Affen, hölzern gerahmt, sowie die Stammbäume ihrer Familien. Viel Platz beansprucht ein künstlicher Baum, der aus Textilien zusammengesetzt ist. Eine Installation aus Streichhölzern soll das Ausmaß der Zerstörung des Regenwalds anschaulich machen. Holzschnitthafte Figuren des Menschen und der Menschenaffen deuten in einem Land, in dem ein religiöses Bekenntnis gesetzliche Vorschrift ist, den Gedanken der Evolution an. Wobei der Orang-Utan hier neben den Homo sapiens gestellt wird, während eigentlich der Schimpanse genetisch unser nächster Verwandter ist. Als Originalobjekt ist ein Hemd der Primatologin ausgestellt. Nur welche Ergebnisse ihre langjährige Forschung eingebracht hat, erfährt der Besucher nicht.
In einer gefährdeten Umwelt eine aussterbende Art zu erforschen, ist vielfach herausfordernd, nicht zuletzt emotional. Wer die Tiere nicht in Gefangenschaft studieren möchte, begibt sich in immer kleiner werdende Waldgebiete – und findet sich dort inmitten von Reisegruppen wieder. Er oder meistens sie hat mit dem eigenen Team ebenso umzugehen wie mit Einheimischen, die von anderen kulturellen und wirtschaftlichen Voraussetzungen ausgehen: mit lokalen Führern, dem Wirt einer einfachen Unterkunft oder den Pflegern in einer überforderten Auffangstation. Sogar die Übergabe von Spenden kann zu einer logistischen Schwierigkeit werden. Termine werden verschoben, Quittungen bleiben aus. Gefragt sind Geduld und Diplomatie. Hinzu kommen Probleme der Hygiene, Hitze und Luftfeuchtigkeit, Tropenkrankheiten oder die mühsame Vorsorge mit heftigen Medikamenten und toxischem Insektenspray, die Strapazen der Fußmärsche und des Übernachtens im Freien, Einsamkeit, Langeweile, Depression und immer wieder Zweifel an Sinn und Erfolg der eigenen Tätigkeit. Die Sorge um eine bedrohte Species entfernt viele Forscher von ihrem Fachgebiet.
Alle diese Faktoren bedingen die Affenforschung – und das evolutionspsychologische Verständnis des Menschen. Aber in wissenschaftlichen Publikationen haben sie keinen Platz, weil Emotionen den Anspruch der Objektivität zu gefährden scheinen. Dabei bestimmen sie die Arbeit mit Affen wie kaum eine andere Disziplin: als zunehmend verzweifelten Einsatz zwischen Primatenforschung, Artenschutz und Tourismus.
Oliver Lubrich
Der Autor ist Professor für deutsche und vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Bern. Gemeinsam mit der Evolutionsbiologen Katja Liebal und dem Ethnologen Thomas Stodulka leitet er das interdisziplinäre Projekt „Die Affekte der Forscher“ (gefördert von der Volkswagen Stiftung): www.affekte.unibe.ch